E5-Alpenüberquerung: In 8 Tagen von Oberstdorf nach Meran

Anspannung liegt in der Luft. Ich sitze gemeinsam mit meinen Eltern über der Tourenplanung. Insgesamt 9 Tage soll unsere Weitwanderung durch die Alpen dauern. Immer wieder huscht ein zweifelnder Blick über die Seiten des Wanderführers. Zwar orientieren wir uns an der Strecke des bekannten Fernwanderwegs E5 von Oberstdorf nach Meran, doch soll unser Weg abseits der Massen entlanggehen. Das bedeutet längere Aufstiege und ausgesetztere Passagen. Zur Anspannung gesellt sich Entschlossenheit: Gehen wir es an!

Aller Anfang ist schwer

Die ersten Schritte sind die schwersten, sagt man. Danach wird es leichter. Na hoffentlich! Schnaufend setze ich einen Fuß vor den anderen. Meine Gesicht nimmt innerhalb von Sekundenbruchteilen eine ungesund aussehende, tiefrote Färbung an. Meter für Meter schieben wir uns nach oben, bis wir nach knapp 700 Höhenmetern den höchsten Punkt des ersten Tages erreichen. Mein Herz pocht schwer und der Rucksack drückt auf die Schultern. 700 Höhenmeter sind gar nichts im Vergleich zu dem, was uns in den nächsten Tagen erwartet. Ich atme durch. Spreche mir selbst Mut zu. Das wird schon werden. Oder …?!

Die Sache mit der Höhenangst

Wider der gestrigen Erwartung ist es nicht der schweißtreibende Aufstieg, der Etappe 2 schwierig macht. Stattdessen ist es die letzte Passage über das Leiterjöchl. Für dieses Stück sollte man unbedingt trittsicher und schwindelfrei sein, heißt es in der Tourenbeschreibung. Ich fange Mamas Blick ein. Mit jedem Schritt spiegeln ihre Augen mehr Unsicherheit wider. Ich kenne ihre Höhenangst. Wir drosseln das Tempo. Nehmen uns Zeit für die leichte Kletterei, die durch ein Drahtseil unterstützt wird und schaffen es schließlich bis zum höchsten Punkt. „Aufgeben war ja auch gar keine Option. Wir sind ja schließlich schon so weit hochgelaufen,“ ist Mamas Fazit beim verdienten Weißbier am Abend.

„Dann haben wir einen Tag mehr in Meran“

Nach diesem Satz kommt es zur nächsten Idee. Zwei kürzere Etappen kommen in den nächsten zwei Tagen auf uns. „Was haltet ihr davon, wenn wir diese beiden Etappen auf einen Tag zusammenlegen,“ schlage ich beim Abendessen vor. Dann erwarten uns ca. 8 Stunden Gehzeit, wir sparen uns einen Tag und haben mehr Zeit in Meran. So der Plan. Die beiden Etappen beinhalten allerdings zusammengenommen etwa 2.600 Höhenmeter bergab. Bereits nach der Hälfte machen sich die Knie bemerkbar. Aber es hilft ja nichts. Erst im Örtchen Piller dürfen wir uns zur Ruhe legen.

Die längste Etappe

Zumindest geht es am vierten Tag weniger bergab. Dafür sind es beinahe 2.000 Höhenmeter im Anstieg. Die angegeben Gehzeit von 11 h verrät schon, dass es sich um die längste Etappe handelt. Besonders der letzte Teil hat es in sich. Meine Fußsohlen brennen. Die Motivation ist schon lange abgesprungen und hat sich zur Ruhe gelegt. Stoisch setze ich einen Fuß vor den anderen. Der Schweiß steht mir auf der Stirn und die Waden sind zum Zerreißen gespannt. Nicht mehr lange, rede ich mir ein. Gleich sind wir da. Ganz bestimmt. Aus dem gleich wird ein bald. Aber irgendwann, eine gefühlte Ewigkeit später, befreien wir die angeschwollenen Füße aus den stinkenden Bergschuhen im Trockenraum der Verpeilhütte.

Mondlandschaft trifft auf tiefblaue Bergseen

Statt Ruhetag steht ein weiterer Gewaltmarsch bevor. Das wissen wir morgens allerdings zum Glück noch nicht. Wir wissen nur, dass das Madatschjoch, über das man ansonsten zur Kaunergrathütte gelangt, gesperrt ist. Stattdessen führt uns unser Weg über das sogenannte Verpeiljoch. Dass die Strecke länger ist, verrät ein Blick auf die Karte. Die zusätzlichen Höhenmeter und die leichte Kletterei haben wir so jedoch nicht erwartet. Doch es lohnt sich landschaftlich. Wir stapfen durch schier endlose Geröllwüsten, fühlen uns wie auf dem Mond und landen schließlich an einem unwirklich wirkenden, türkisblauen See. Der passt genauso wenig in die schroffe Landschaft, wie die gemütlich wirkende Kaunergrathütte, in die wir schließlich einkehren.

Auf ausgetretenen Pfaden

Das war der letzte Abstecher abseits des E5. Wir setzen unseren Weg ins Pitztal fort und reihen uns in die Schlangen ein, die sich über den beliebten Weitwanderweg zur Braunschweiger Hütte hinaufschlängeln. Nebel umhüllt uns. Tiefblicke gibt es selten. Und auch das Ziel bleibt hinter dichten Schwaden im Verborgenen. Dafür wird es feucht und klamm. Zugig pfeift uns der Wind um die Backen. So langsam sind die Akkus leer. Zwei Tage stehen uns noch bevor.

Ein Tag zur Entspannung

Wir entscheiden uns, den müden Beinen eine Pause zu gönnen und nehmen uns nur den Abstieg ins Ötztal vor. Bei Starkregen schlängeln wir uns Richtung Vent hinab. Die Hose klebt an den Oberschenkeln. Alles ist nass und kalt. Teils sind die Steige rutschig. Einige Mal schlittern wir über feuchten Schlamm. Die Motivation ist angegriffen. Nur die Aussicht auf eine warme Dusche und einen entspannten Abend in einer Pension statt Hütte macht den Weg zum Ziel erträglich.

Durch den Schnee nach Italien

Am letzten Tagen starten wir erneut bei Regen. Nach wenigen Schritten sind wir klatschnass. Nicht schon wieder, grummle ich in mich hinein. Doch, was ist das? Weiter oben werden die Gipfel weiß. Nur wenig später stapfen wir durch 20 cm Neuschnee. Schneeflocken tanzen uns um die Nase. Wie im tiefsten Winter bahnen wir uns nach oben Richtung Similaunhütte, die behängt mit Eiszapfen den kalten Temperaturen trotzt. Drinnen wärmt ein Cappuccino, bevor wir den Weg nach unten fortsetzen und schließlich am Vernagter Stausee ankommen. Wir klatschen ab. Geschafft!

Fazit

In 8 Tagen von Oberstdorf bis zum Vernagter Stausee. Wir haben alles erlebt. Regen, strahlenden Sonnenschein und starken Schneefall. Von sommerlich warmen Temperaturen, die mit kurzer Hose kaum auszuhalten waren, bis zu frostigen Minusgraden führte uns unser Weg durch alle Jahreszeiten. Dabei ging es von grünen Almwiesen immer wieder hoch hinauf in hochgebirgsähnliche Gefilde. Eine Woche mit der Familie, aus der jeder von uns Kraft für die kommende Zeit mit sich bringen wird.

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